Modern Dance Reviews
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Jo Fabian: living.type.as
Eine interaktive Tanzinstallation

Berlin, 28.10.2005


Jo Fabian: living.type.as

Wie immer bei Tanzinstallationen gibt es in "living.types.as" keine Sitzplätze, sondern nur einen Raum, in dem sich die Besucher bis auf die Bühnenbereiche frei bewegen können. Die Hauptbühne ist ein mit Sand bedecktes Viereck mitten im Raum, auf den über einen Spiegel von der Decke eine Videoaufnahme von fließendem Wasser in blau projiziert wird. Dazu wird grünes Scheinwerferlicht gemischt, so dass die Bühne in türkis erscheint. Zusätzlich wird sie ab und zu für wenige Sekunden von zwei Scheinwerferpaaren aus den Ecken des Raumes beleuchtet. Die Steuerung der Scheinwerfer steht in keinem Bezug zur Stellung der Tänzer (siehe unten), daher schießen die weißen Lichtstrahlen fast immer an den Körpern der Tänzer vorbei. Weitere Scheinwerfer mit weißem und rotem Licht werden gelegentlich von der Decke dazu geschaltet.

Auf der Sandbühne betätigen sich zwei schwarz gekleidete Tänzer mit blonden Perücken und schwarzen Sonnenbrillen. Sie tragen Kopfhörer, die von Funkempfängern gespeist werden und den Tänzern Steuerungssignale übermitteln, welche von den Besuchern durch die Betätigung von Tasten an fünf um die Bühne verteilten Keyboards ausgelöst werden. Die Tänzer stehen oder laufen langsam hin und her und führen Serien von einfachen, etwas mechanisch wirkenden Bewegungselementen durch. Ihr Körperkontakt beschränkt sich auf stille Umarmungen. Ein Tänzer erzeugt immer wieder ein schnalzendes Geräusch, beide wirbeln gelegentlich mit ihren Füßen Sand in die Luft. Eine Dynamik oder Struktur ist nicht erkennbar, die Bewegungsserien wirken planlos. Wenn man beide Tänzer gleichzeitig beobachtet, findet man aber interessante, eher komplementäre als synchrone Entsprechungen. Die Musik besteht aus anspruchslosen Schlagzeug- und Harmonietracks, die wie aus Popsongs herauspräparierte Begleitspuren klingen. Man kann es auch so sehen, dass der Besucher so viele Wahrnehmunsquellen zur Auswahl hat, dass ihn anspruchsvolle Musik eher überfordern würde.

Jo Fabian: living.type.asEiner Seite des Raumes ist ein schmaler Nebenraum angegliedert, der als Zweitbühne dient. Durch zwei verglaste Fenster können die Besucher die darin ablaufende Performance beobachten. Der Raum enthält einen Videoscreen, zwei Stehlampen, zwei Stühle und eine Tänzerin im schwarzen Kleid mit Sonnenbrille, die in Zeitlupe von einem Fenster zum anderen wandert und eine Geschichte mit einem echten, scharfen Messer tanzt. Ihr Kleid ist auf dem Rücken tief ausgeschnitten und bildet kleine schwarze Flügel. Die Performance der enigmatischen Schönheit ist scheinbar als einziger Teil des Stücks von externer Steuerung (siehe unten) ausgenommen und hat Hand und Fuß. Es muss übrigens ziemlich anstrengend sein, eine ganze Stunde in Zeitlupenbewegung zu verbringen.

Der Besucher kommt so nahe an die Fensterscheibe wie er sich traut, die Tänzerin auf der anderen Seite berührt die Glasscheibe buchstäblich mit ihrem Körper und Gesicht. Die Kombination aus großer Nähe und verlangsamter Bewegung eröffnet dem Zuschauer neuartige Betrachtungsperspektiven. Besonders reizvoll erweisen sie sich bei Hand- und Fingerbewegungen, die eine eigene "Choreografie" ausführen. Die als physikalische Barriere wirkende Glasscheibe ermutigt den Besucher, einen geringen Betrachtungsabstand zu wählen. Eine wichtige Rolle spielt auch die schwarze Sonnenbrille, denn direkter Augenkontakt wäre bei der geringen Distanz belastend. Die Gestaltung der Performance auf der Nebenbühne ist in höchstem Maße innovativ.

Besucher in der Rolle eines Zufallsgenerators

Jo Fabian: living.type.as Der Autor bezeichnet das Stück als "interaktive Tanzinstallation", weil die Besucher durch die Betätigung der Keyboards Tanz, Sound, Licht und Videoschnitt beeinflussen können. Er möchte den Besucher zum "Koproduzenten" seines Stücks machen und setzt auf seine Bereitschaft, "dem Kunstwerk sowie dem Tänzer gegenüber die Verantwortung zu übernehmen". Das ist jedoch reine Makulatur. Wenn der Besucher zufällig ausgewählte Tasten drückt, deren Auswirkung er nicht verstehen, befriedigt er höchstens seinen Spieltrieb. Mit einem "Kommunikationsbedürfnis" hat es nichts zu tun und seine Rolle als "Koproduzent" begründet es noch weniger. Der unkoordinierte kollektive Input wirkt lediglich als Zufallsgenerator, den der Autor mit dem gleichen Ergebnis auch direkt in die Software integrieren könnte.

Für den Besucher ist es trotzdem wichtig, dass zufällige Steuerungssignale durch seine Finger ausgelöst werden. Er wird ermutigt, eine aktive Rolle zu übernehmen, und wenn er echte oder vermeintliche Tastenzuordnungen erkennt, wird er mit Aha-Erlebnissen belohnt.

Falls ein Weg gefunden wird, den Besucher tatsächlich in die Dramaturgie eines Stücks einzubeziehen, wird es die Entwicklung der Tanzinstallation einen großen Schritt voran bringen. Es gibt verschiedene Ansätze in dieser Richtung, aber bisher keinen praktikablen Weg, der dem Anspruch von Jo Fabian genügen würde. Um die Besucher zu "Koproduzenten" zu machen, müsste der Künstler ihre Vorstellungskraft und ästhetischen Präferenzen ernst nehmen. Für eine gezielte Einflussnahme wäre eine Informationsbasis nötig und es ist unklar, woher die Besucher sie erhalten sollen. Das zweite Problem ist, dass unkoordinierte Aktionen mehrerer Besucher sich gegenseitig stören oder ausschließen können. Möglicherweise sind diese Probleme lösbar. Aufgrund der Bedeutung der Interaktivität in den Werken und Willenserklärungen von Künstlern wie Jo Fabian, Wilhelm Groener und William Forsythe können wir ich diesem Bereich weitere Vorstöße erwarten.

Surrealistisches Brot

Auf den vor der Nebenbühne aufgestellten Tischen stehen altmodische Telefonapparate, an denen die Besucher kleinen Geschichten lauschen können, während sie durch die Fenster den Tanz verfolgen. Der Ursprung der Texte ist unklar und man gerät meist in die Mitte einer Erzählung. Eine typische Passage (ohne Anspruch auf Genauigkeit):

"Surrealistisches Brot kann man nicht essen, weil es meist mit Nägeln und anderem unverdaulichem Zeug garniert ist. Spektral surrealistisches Brot ist aber bereits gegessen worden, zumindestens eine Scheibe davon."

Jo Fabian: living.type.as Oder es wird eine Story über einen brennenden Fisch in einer Kunstausstellung erzählt und über eine schwarz gekleidete Frau berichtet, die zu dem Fisch aus dem benachbarten Raum durch ein als Bild getarntes Fenster schaut, wobei der Rahmen ihren Körper "gerade unterhalb der Brust schneidet". Damit die Metapher perfekt wird, kommen auch in der Geschichte Besucher vor. Ein Junge wird von seinem Vater geohrfeigt, weil er dem brennenden Fisch zu nahe kam. Der echte Besucher vor dem Fenster der Nebenbühne macht sich Gedanken, warum eben diese Geschichte erzählt wird.

Was nun?

Die offensichtliche Schwäche der Installation ist die Unverbindlichkeit des Geschehens auf der Hauptbühne. Gelangweilte Besucher können jedoch zur Nebenbühne wechseln, deren Gestaltung eine Glanzleistung ist, oder zwischendurch einer Geschichten am Telefon zuhören. Der Autor hat sein Versprechen noch nicht eingelöst, den Besucher zum Koproduzenten seines Stücks zu machen. Auf seine Frage, ob kollektive Kreativität Chaos bedeutet oder nicht, kann "living.types.as" daher keine Antwort geben. Das Stück ist aber trotzdem sehens- bzw. begehenswert. Wir können gespannt sein, ob Jo Fabian in seinen zukünftigen Kreationen die Einflussnahme der Besucher weiter vertiefen kann, um der Antwort auf seine Frage näher zu kommen.

Regie: Jo Fabian
Tänzer auf der Hauptbühne: Annegret Thiemann und Ralf Kittler
Tänzerin mit schwarzen Flügeln und Messer: Kerstin Rünzel



Bericht: Petr Karlovsky