Modern Dance Reviews
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Ralf Jaroschinski: Eins

Göttingen, 6.10.2005


Ralf Jaroschinski: Eins

Ralf Jaroschinski hatte sich zu Beginn seiner Laufbahn als Choreograf in den 90er Jahren vorgenommen, eine neue, menschliche Tanzsprache zu entwickeln, mit deren Hilfe er der Entfremdung des zeitgenössischen Tanzes entgegenwirken wollte. Sein Stück "Eins" zeigt, dass er diesem Vorsatz treu geblieben ist, und beweist darüber hinaus, dass die Fokussierung auf den Rezipienten nicht zwangsläufig mit Einbußen am künstlerischen Anspruch einhergehen muss. Die Choreografie ist ideenreich und hat Hand und Fuß, alle vier Tänzer glänzen mit technischer Perfektion und Ausdrucksreife. Solche Ansprüche stellt man an Kompanien, die auf großen Bühnen mit festen Budgets und langfristigen Verträgen von der rauen Welt abgeschirmt sind, aber nicht unbedingt an eine für ein Stück zusammengesuchte Truppe von freien Tänzern und Tänzerinnen. Der Zugriff auf Tanztheaterelemente erleichtert dem Publikum den Zugang, "Eins" ist im besten Sinn des Wortes ein für den Zuschauer choreografiertes Werk.

Ralf Jaroschinski: Eins. Foto Petr Karlovsky Der erste Teil beginnt mit einem Posieren der Gruppe in Kostümen, die Jürgen Westhoff im fantasieangereicherten mittelalterlichen Stil entwarf (Foto links). Dazu passt die Musik von Giovanni Battista Pergolesi ("Stabat Mater") perfekt. Das schwere rote Oberkleid von Sabrina Hauser wird nur für statische Körperbilder verwendet, die an Gemälde von Anne Bachelier erinnern, die Tänzerin legt es nach wenigen Minuten ab. Danach tanzt sie während des ganzen ersten Teils des Stücks in einem metallringverstärkten Rock, ohne es den Zuschauer als eine Behinderung spüren zu lassen. Unter den Kostümen fällt weiterhin die Jacke von Gianni Cuccaro aus dunkelrotem Samt auf, weil sie quer durch die Brust aufgeschnitten ist. Im Verlauf des Stücks ziehen die Tänzer ihre Theaterkostüme nach und nach aus, bis sie für die abschließenden Szenen in schlichten grau- und beigegefärbten Kleidern erscheinen.

Ralf Jaroschinski: Eins. Foto Petr Karlovsky Nach der ersten Szene kommt Jaroschinski selbst im Kostüm eines Marquis auf die Bühne und stellt dem Publikum eine Aufgabe. Er führt paarweise Bewegungen vor, die jeweils zwei Gegensätze darstellen, und fragt nach ihrer Bedeutung. Unter den Antworten wie öffnen/zumachen, langsam/schnell und nach innen/nach außen ist die korrekte Lösung offensichtlich nicht enthalten, der Choreograf lächelt aber nur und verrät die korrekte Antwort nicht. Später erscheint er nochmals und tanzt alle zuvor vorgeführten Bewegungen in einem Stück, hinsichtlich ihrer Bedeutung lässt er die Zuschauer jedoch auch hier in Ungewissheit. Die Bewegungen wirken wie Arbeitsabläufe, bei denen spezielle Griffe oder Instrumente benötigt werden. Identifizieren lassen sich die Arbeiten freilich nicht, weil es sich um Fantasiehandlungen handelt. Woran liegt nun der Widerspruch? Der erste Bewegungsteil wirkt mühsam, als ob er gegen Widerstände durchgeführt würde, der zweite läuft fließend und mühelos ab. Vermutlich wird hier der Widerspruch zwischen rationalen Überlegungen und emotionalen Regungen zum Ausdruck gebracht, deren Vereinigung in einer Person ("Eins") die leitende Idee des Stückes ist.

Ralf Jaroschinski: Eins. Foto Petr Karlovsky In vielen Szenen werden Attributen passiv/lebhaft bzw. zerstört/überlegen gegenüber gestellt und auf unterschiedliche Weise verarbeitet. Zunächst nimmt Michael Veit die Rolle eines Geschlagenen in einem langen Solo über das Balancieren am Rand des Kollapses ein. Die Kompanie ignoriert den Zerstörten oder lacht über ihn (auch der Choreograf gesellt sich in Miniauftritten dazu), bis er in ein wunderbares Duo mit Gianni Cuccaro verwickelt wird. In der zweiten Variante stehen zwei Frauen reglos auf der Bühne und die Tänzer nähern sich ihnen in Kontaktaufnahmeversuchen an, sie erreichen jedoch nur, dass diese noch näher zusammenrücken, indem sie ihre Hände auf die Schultern der anderen legen und später ihr gesamtes Körpergewicht aufeinander stützen. Ihre Abschirmung wird in der Schlussszene von Ralf Jaroschinski vollendet.

Ralf Jaroschinski: Eins. Foto Petr Karlovsky Es folgen Tanzpassagen über interne Zerrissenheit und Auflösung, in denen wieder die zentrale Gestaltungsidee gedeutet werden kann. Im Verlauf des Stücks wird eine Entwicklung der Bewegungssprache von klassischen, aus dem Ballett entliehenen Elementen, zur Moderne vollzogen, und wo die feinfühlige Musik von Pergolessi nicht mehr dazu passt, wird sie zwischendurch durch dynamische zeitgenössische Klänge ersetzt. Die Choreografie endet mit einer Körperfigur, welche das Motto des Stückes in Form der Ziffer Eins materialisiert.

Jaroschinski und seiner Gruppe ist es gelungen, erstklassigen Tanz in einer für breite Schichten von Kulturinteressierten zugänglichen Form darzubieten. Leider wurde die Veranstaltung in Göttingen so spät und unzureichend bekannt gemacht, dass die Besucherzahl in der MUSA beschämend niedrig ausfiel. Das ist bedauerlich, denn die Akzeptanzprobleme des modernen Bühnentanzes werden durch solche Mängel nur unnötigerweise verstärkt.

 

Choreografie: Ralf Jaroschinski
Tanz: Michael Veit, Gianni Cuccaro, Carolyn Hall, Sabrina Hauser und Ralf Jaroschinski


Ralf Jaroschinski: Eins. Foto Petr Karlovsky

Bericht: Petr Karlovsky