Modern Dance Reviews
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Sheep on the moon, I-Migration und Aquarius Secret:
Ein Abend mit serbischen Künstlerinnen in Räumen des Theaters im Depot, Dortmund

Dortmund, 7.09.2005


Foto:  Bojana Mladenovic und Dragana Alfirevic

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Der Besuch der Performance war nur nach vorheriger telefonischer Anmeldung möglich. Insbesondere zu Beginn schien es so, als ob es sich um den ersten Auftritt der Performerinnen handelte und sie erst dabei waren herauszufinden, was sie an diesem Abend eigentlich zeigen wollten. Der Eindruck war gewollt, denn das Verhältnis zwischen den Persönlichkeiten der Darstellerinnen und ihren Rollen war eine zentrale Gestaltungslinie der Performance.

Foto: Bojana Mladenovic Die Tänzerinnen kündigten einzelne Szenen vorher an, andere stellten sie während der Vorführung mit eigenen Kommentaren in Frage. Zusätzlich platzierten sie auf der Bühne erklärende Schrifttafeln. Die Gestaltung des Abends einschließlich der Person einer Performerin wurde anscheinend kurzfristig geändert. Daher vermute ich, dass die in den Vordergrund gestellte Spontaneität noch andere Gründe hatte, als dass sie im Konzept der Performance vorgesehen war.

Als Schauspielerinnen stellen Bojana Mladenovic und Dragana Alfirevic zunächst sich selbst dar, schenken sich gegenseitig T-Shirts und lassen die Freude über die Bühne strömen. Ihre Rollenspiele beschäftigen sich hauptsächlich mit Kunst und Klischees. Zum Beispiel parodiert Bojana Mladenovic klassisches Ballett (Foto links) und macht sich über den Geschmack der 70er Jahre lustig, indem sie als Schaufensterpuppe von Dragana Alfirevic mit Kleidungsstücken und Symbolen aus dieser Zeit ausgestattet wird. Mit einem Song von ABBA im Hintergrund wird die Illusion perfekt (Fotos unten).

Foto: Bojana Mladenovic und Dragana Alfirevic

Die quasi-improvisierte, stellenweise naiv anmutende "Moderierung" der eigenen Performance stellt einen Gegenpol zur Souveränität der tänzerischen und schauspielerischen Leistung der Performerinnen dar. Insbesondere in den schrägen Szenen haben sie viel zu bieten. Die meisten Tanzpassagen wurden von zwischenmenschlichen Beziehungen inspiriert, es geht auch um die Erfüllung von Erwartungen und um Abhängigkeiten. Die Spanne reicht von leicht zu deutenden Szenen wie dem Kampf zwischen zwei Raubkatzen oder der Machtausübung (z.B. wenn Dragana auf Bojanas Kommando Liegestützen macht) bis zu abstrakteren Choreografien. Die Titelfotos dokumentieren eine solche Tanzpassage, in der die Performerinnen an jeweils einem Bein einen Rock gemeinsam anziehen und dabei reizvolle Verflechtungen von Händen und Füßen entstehen lassen.


I-Migration (Re-chargeable)
Performance/Installation von Ljiljana Letic

Ljiljana Letic erlebte den Balkankrieg in ihrer Pubertät und flüchtete sich von der unerträglichen Realität in die Musik. Diese Erfahrung wollte sie nach dem Krieg mit anderen teilen. Ihre fünfzehnminütige Performance findet im dunklen Bunker des Theaters statt. Die Performerin in einer schwarzen Strickmütze sitzt im Schneidersitz vor einem Haufen ausgebrannter Batterien und einem Walkman, mit dessen Hilfe sie sich während des Krieges in ihrem Zimmer eine Ersatzwelt geschaffen hatte. Der Raum wird nur von der Projektion einer friedlichen Landschaft mit einem Schaf auf die rohe Kellerwand beleuchtet. Wir stehen im Kreis um die Performerin und hören ihrer Geschichte zu, die sie aufs Band gesprochen hat. Sie selbst bleibt die ganze Zeit still und bewegungslos. Ihre Erzählung ist unpathetisch, persönlich und rührend. Über den Krieg selbst spricht sie kaum, Ausflüge über die Grenzen der eigenen Geschichte ins Philosophische beschränken sich aufs Minimum. Wir verlassen den Keller still und nachdenklich.


Drei Solo-Tanzstücke von Dragana Alfirevic

Foto: Bojana Mladenovic
Zum Schluss des Abends tanzt Dragana Alfirevic im "Kreativraum" des Theaters drei kurze Soli, dessen gemeinsamer Nenner Weiblichkeit ist. Im ersten Stück lässt sich die Tänzerin ihre Beine in Kniehöhe mit einem Tuch zusammenbinden, ihre Bewegungspalette bleibt auf den Oberkörper und die Arme beschränkt. Thematisch geht es in diesem Stück anscheinend um die Schwangerschaft (Foto links).

Das zweite Stück bezeichnete die Tänzerin selbst als eine "pseudofeministische Pseudochoreografie". Der Raum wird verdunkelt, nur schmale Lichtstreifen aus dem Projektor beleuchten den Körper der Tänzerin. Der Tanz besteht aus ständiger Wiederholung eines Bewegungszyklus:

1. Sie lehnt sich mit dem Rücken an die Wand,
2. fällt nach vorne und legt sich flach auf den Bauch,
3. stützt den Oberkörper an den Armen ab und zieht den Kopf nach hinten (Hathayoga-Anhängern ist diese Position als "Kobra" bekannt),
4. nimmt wieder die Ausgangsposition ein.

Währenddessen werden Statistikdaten zur Gesundheit und gesellschaftlicher Position von Frauen auf Englisch vorgelesen und auf Serbisch an die Wand projiziert. Dabei werden echte statistische Daten mit fantasiereichen Pseudostatistiken gemischt, etwa in diesem Stil (ohne Anspruch auf Genauigkeit):
- Eine von dreißig Frauen wird im Alter von unter 18 Jahren von einem Mann aus dem Familienkreis missbraucht.
- Jede sechste Frau masturbiert am Arbeitsplatz.
- Jede zwölf Minuten wird ein Brustkrebs diagnostiziert.
- Zwei von fünf Frauen benutzen bei der Masturbation essbare Objekte. ("Essbar" wird als "eatable" statt "edible" ausgedrückt.)

Foto: Bojana Mladenovic Zum dritten Tanzstück lädt Dragana Alfirevic fünf Freiwillige aus dem Publikum auf die Bühne ein, platziert sie liegend auf dem Boden und instruiert sie, bestimmte Geräusche mit dem Mund zu machen. Der Raum wird wieder verdunkelt, Dragana Alfirevic zieht sich nackt aus und klettert langsam über die Anrichte der im hinteren Teil der "Bühne" aufgebauten Küchenzeile (Foto rechts). Zur Deutung findet sich im Programmheft dieser Hinweis:

Usually
I Arrive into this Office
I make Two Cups of Coffee
I Get Undressed
and
I Wait for you

Dragana Alfirevic: Aquarius Secret Dragana B. Stevanovic: Fotoausstellung

Dragana Alfirevic arrangierte im Kreativraum des Theaters ihre Unterwäsche zu einer Installation und versah jeden Schlüpfer mit einem kurzen Kommentar. Dazu stehen Tonbänder in verschiedenen Sprachen zur Verfügung, von denen sich die Besucher Gespräche zwischen Alfirevic und ihren Mitakteurinnen anhören können (Fotos unten). Die zweite Ausstellung im gleichen Raum stammt von Dragana B. Stevanovic und besteht aus Collagen von zwei bis vier Kleinfotos. Die Fotografin nahm dazu isolierte Gegenstände und Details menschlicher Körper und Gesichter in Städtelandschaften von Serbien, USA und London auf, die sie in den letzten Jahren besuchte.

Obwohl die zwei Ausstellungen auf den ersten Blick sehr unterschiedlich sind - Intimität provokativ zur Schau gestellt auf der einen Seite, unspektakuläre Reisefotos in Kleinformat auf der anderen - haben sie einen gemeinsamen Nenner. Geordnet und mit Hinweisen versehen werden dem neugierigen Blick des Besuchers persönliche Erinnerungen der Künstlerinnen freigegeben. Darin besteht auch eine Verbindung zu den Tanzdarstellungen von Dragana Alfirevic und Bojana Mladenovic ebenso wie zu der Installation von Ljiljana Letic. Die Verarbeitung von Erlebnissen aus dem eigenen Privatleben ist bei den meisten Künstlern die Grundlage ihrer ersten Reflexionen, die später mit künstlerischen Mitteln immer stärker verschlüsselt werden. An diesem Abend haben die Besucher diese Entwicklungsphase insbesondere bei Ljiljana Letic und Dragana Alfirevic deutlich gespürt.


 Bojana Mladenovic und Dragana Alfirevic

Bericht: Petr Karlovsky