Modern Dance Reviews
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Edouard Lock und LaLaLa Human Steps: Amelia

Berlin, 17.08.2005


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Das Stück "Amelia" hat Edouard Lock mit seiner in Montreal residierenden Kompanie "LaLaLa Human Steps" zum ersten Mal im Jahr 2002 in Prag aufgeführt und zwei Jahre später verfilmt. Die inzwischen mehrfach preisgekrönte Filmversion wurde zuletzt im Rahmen des Berliner Festivals "Tanz im August" vorgeführt.

Amelia01a.jpg "Amelia" ist eine abstrakte Choreografie für neun Tänzer und Tänzerinnen im minimalistischen Musik- und Bühnenrahmen, die zum größten Teil aus Pas de deux besteht. Die Partner tanzen entweder getrennt oder der männliche Tänzer stützt die Tänzerin und gibt ihr Drehimpulse, während sie verblüffend schnelle Bewegungen führt. Eine Besonderheit ist die Verwendung von Spitzentechnik, die allerdings der muskelorientierten Bewegungssprache unterworfen wird. Die Fokussierung auf die Tänzerin und die Beschränkung des Körperkontaktes auf unterstützende Griffe sind weitere charakteristische Merkmale. Die Körper prallen mit voller Kraft aufeinander oder werden auf den Boden geworfen und bremsen den Aufschlag erst im letzten Sekundenbruchteil ab. Gelegentlich erstarren sie für einen kurzen Moment, nur um sich gleich in die nächste Konfrontation zu werfen. Die minimalistische Umgebung, harte Ausleuchtung kleiner Bereiche und die Isolierung der tanzenden Paare könnte ein Gefühl von Einsamkeit auslösen, die Dynamik und Komplexität der Bewegung gleicht die emotionale Kälte jedoch aus.

In der Filmversion vermutet man zunächst, dass die Geschwindigkeit künstlich gesteigert wurde oder dass die Tänzer und Tänzerinnen das Tempo nur für wenige Sekunden lange Aufnahmen halten können. Beides ist falsch: Eine digitale Beschleunigung gab es nicht und die Geschwindigkeit von Live-Aufführungen, die übrigens wesentlich länger sind als die 60-minütige Filmversion, ist nicht geringer. Das Tempo wird von den Tänzern selbst bestimmt, die sich scheinbar an die Grenze des Machbaren heran tasten. Dazu kommt, dass die Bewegungen zum größten Teil aus Elementen bestehen, die für die Erzeugung von komplexen und schnellen Mustern besonders geeignet sind. Das sind zum Beispiel Sequenzen von Armbewegungen, bei denen Handrücken oder Finger hintereinander bestimmte Punkte am Kopf oder Gesicht streifen. Der Beobachter kann die fragmentierte Armbewegung im Detail nicht nachvollziehen, wodurch der Eindruck von irrealer Geschwindigkeit entsteht.

img/Amelia11.jpg Der auffälligste Unterschied zwischen der Filmadaptation und Bühnenaufführung ist die Bühne selbst. Im Film findet die ganze Performance in einem Holzcontainer mit einem quadratische Boden von zehn mal zehn Metern und acht Meter hohen Wänden statt. Der Übergang zwischen dem Boden und zwei gegenüberliegenden Wänden ist abgerundet und die Wände steigen allmählich an. Dies ermöglichte es dem Kameramann Andre Turpin tiefe Perspektiven vorzutäuschen. Der Blick der Kamera wechselt im schnellen Rhythmus vom Weitwinkel bis zu leinwandfüllenden Nahaufnahmen der Gesichter. In den Vogelperspektive-Aufnahmen kommen insbesondere horizontale Armbewegungen und reizvolle Schattenbilder der Körper von Tänzern und Tänzerinnen zur Geltung.

Der Choreograf behauptet, dass hinter den Handlungen keine Story steckt: "From my own point of view, there really is nothing to understand." Ein Aspekt verlangt jedoch nach Deutung: Neben den Tänzerinnen erscheint auch ein Mann in Spitzenschuhen und eine Tänzerin tritt in männlicher Kleidung auf und verhält sich auch entsprechend. Offensichtlich stimmt hier etwas mit den Geschlechtern nicht. Die Lösung des Rätsels offenbarte sich in einem anderen Gespräch, in dem Edouard Lock zugab, sich durch eine Erfahrung aus seiner Jugendzeit inspirieren zu lassen, in der er mit Transvestiten verkehrte. Auf diese Zeit sind auch die Texte von Lou Reed ("Velvet Underground") zurückzuführen, für die David Lang im Auftrag des Choreografen die Musik komponierte.

Amelia08a.jpg Die Choreografie wurde ohne Musik kreiert und eingeübt und erst nachträglich mit Musik versehen. Auch der Komponist David Lang hatte keine Möglichkeit, seine Arbeit dem Tanz anzupassen. Der Verzicht auf gegenseitige Abstimmung von Tanz und Musik wäre für die meisten Choreografen inakzeptabel (Merce Cunningham sei eine ehrenvolle Ausnahme), Edouard Lock begründet ihn eher mit finanziellen Zwängen als mit einem künstlerischen Konzept. In der ersten Hälfte von "Amelia" wird minimalistische Musik für Cello, Violine, eine weibliche Stimme und Klavier gespielt. Bei Wiederholungen eines Musters im 5/4-Takt wechseln sich die drei Instrumente ab, das Muster wird zwischendurch auf einen 9/8-Takt gestützt. Nach etwa 20 Minuten wird die Melodie mit Basstönen vom Klavier untermalt und von neuen Strukturen überlagert, so dass eine chaotisch wirkende Rhythmusverflechtung entsteht, mit der das Stück endet. Die nächste Tanzpassage wird vom Schlagzeugcomputer und zwei Gitarrenakkorden begleitet. Auch dieses kurze Musikstück ist dem Minimalstil verschrieben, es hebt sich jedoch klanglich ab und passt meiner Meinung nach zu der Choreografie besser als die übrige Musik von David Lang. Der letzte Teil wird wieder vom Gesang begleitet, der zunächst spärlich vom Pizzikato des Cellos untermalt wird. Der Vortrag der Sängerin besteht aus lang gezogenen, isolierten Tönen im Rubato, die ich eher als träge denn als melancholisch bezeichnen würde. Mit dem Schluss der letzten Tanzszene wird der Gesang abrupt abgeschnitten und bereits in der nächsten Sekunde wird der Saal von einem Popsong beschallt, während über die Leinwand die Namen der Beteiligten laufen. Warum bei der Editierung für keinen besseren Ausklang gesorgt wurde, ist für mich nicht nachvollziehbar. In den Pausen zwischen den Musikstücken hört man Atem- und Schrittgeräusche der Tänzer und Tänzerinnen, die allerdings nicht echt sind, sondern von einer Klangkünstlerin nachträglich aufgespielt wurden, denn die ursprünglichen Filmaufnahmen waren stumm.

Edouard Lock hat auf unverkennbare Art seine Bewegungssprache in einen minimalistischen Bühnen- und Musikrahmen gesetzt und eine sehenswerte Choreografie geschaffen. Weil er vom Anfang an sein Arsenal voll ausschöpft und das Stück keine durchgehende Entwicklung oder Gesamtdynamik besitzt, verblasst die Begeisterung mit der fortschreitenden Performance etwas und der Zuschauer hat am Ende das Gefühl, dass alles, was das Stück zu bieten hat, bereits in den ersten fünfzehn Minuten gezeigt wurde. Als zweiter Kritikpunkt kann die nicht überzeugende Musikauswahl und Schwächen in der Abstimmung von Musik und Choreografie angeführt werden. Trotzdem ist "Amelia" ein wichtiges und sehenswertes Werk, allein wegen der faszinierenden Intensität und Perfektion der Bewegung, die in Verbindung mit der einfallsreichen Kameraführung ein besonderes Tanzerlebnis garantieren.

Regie und Choreografie: Édouard Lock
Kamera: André Turpin
Musik: David Lang
Text: Lou Reed
Tanz: Andrea Boardman, Nancy Crowley, Mistaya Hemingway, Keir Knight, Chun Hong Li, Bernard Martin, Jason Shipley-Holmes, Naomi Stikeman, Zofia Tujaka
Musiker: Alexandre Castonguay (Cello), Simon Claude (Geige), Njo Kong Kie (Klavier und Dirigent), Nadine Medawar (Vokalistin)

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Bericht: Petr Karlovsky